Fünf der neun Sinfonien neu entdeckt
Kenne man eins, kenne man alle: So lästern bekanntlich böse Zungen (wie der geniale Strawinsky) über Vivaldis Concerti. Eine Behauptung, die nur durch Ahnungslosigkeit oder traumatisierende Hausmusik-Erfahrungen zu entschuldigen ist. Aber um Vivaldi geht es hier ja gar nicht, sondern um Ludwig van Beethovens weltberühmte Sinfonien. Meine These: Kennen Sie alle, kennen Sie keine.
Zugegeben, es gibt sie, jene ruchlosen Vorkommnisse, bei denen Beethovens Musik, in der die ganze Welt in Flammen lodert, allzu vertraut dahertönt. Man kennt jede Stelle, wenn Beethoven routiniert abmusiziert wird. Oder zu jedem Anlass. „Immer und immer wieder“, stöhnte einmal die Kulturwissenschaftlerin Juana Zimmermann: „Wir eröffnen ein Rathaus in Schnarup-Thumby – Beethovens Neunte. Abschlussstück beim Akkordeonfest – Beethovens Siebte (ohne Akkordeon)“.
Verblüffende Transformation
Wenn Routine geschieht, dann schalten wir unser Hören auf Durchzug. Dann liefern wir Beethoven aus: nicht nur dem Durchzug unserer Ohren, sondern – schlimmer noch – unserer Herzen.
Aber es geht auch anders. Auf eine Art, dass der Bekannte, Allzubekannte auf einmal zum Unbekannten wird, zum Geheimtipp. Die Kinnladen klappen uns runter, wir kennen nix davon. Dazu muss man nicht die Partituren auf den Kopf stellen oder von hinten nach vorn lesen. Wobei das auch mal was hätte. Aber hier geht es nicht ums Andersmachen um des Anders willen, sondern ums Lebendigmachen um des Lebens willen.
Damit im 19. Jahrhundert auch Hörer:innen fern der neuen Konzertsäle oder damaliger Schnarup-Thumbyer Rathauseinweihungen die Beethoven-Sinfonien klingend kennenlernen konnten statt nur aus staubschwitzender Partiturlektüre, erstellte der vielseitige Franz Liszt seine Klavierfassungen (mit denen er außerdem eine Menge Geld verdiente). Was sich darin ereignet, ist allerdings für heutige Hörer:innen nicht nur Reduktion, sondern verblüffende Transformation. Aha-Verwandlungen. Da werden nicht einfach einem Technicolorfilm die Farben abgesogen, sondern es entsteht ein völlig neuer Schwarzweißklassiker, mit glasklaren Linien, Schattenwürfen, Kontrasten. Ein irrer Audiophiler, mit dem ich befreundet bin, behauptet gar: Die Unterschiede zwischen zwei Klavierspieler:innen, die Beethoven-Transkriptionen darbieten, seien weit gravierender als die zwischen zwei Orchestern und deren Dirigent:innen. Umso gespannter darf man sein, wenn ausgerechnet der Pianist Igor Levit, der nach eigener Aussage am liebsten nur Fugen und Variationen spielen würde, Beethovens Siebte aufs Klavier lädt. Als Apotheose des Tastentanzes (um Wagners berühmt-berüchtigtes Zitat über die Siebte anzupassen)? Oder gar als eine Symbiose von Fantasie und Fuge, wie sie Bach in jenem Werk anrichtete, das Levit seinem Liszt-Beethoven voranstellt?
Werke von Bach, Brahms und Beethoven
Ausverkauft
Der naheliegendste Weg zur fruchtbaren Verunbekanntung Beethovens ist gewiss noch immer das, was seit einigen Jahrzehnten unter dem hässlichen Begriff „historisch informierte Aufführungspraxis“ fungiert (ein Wort, als wär’s ein Bürokratiemonstrum), aber in Wahrheit großartig sein kann. Die härteste Nuss hat da wohl die Kammerakademie Potsdam zu knacken, deren fabelhafter Ruf in den letzten Jahren nicht nur weit in die Welt gedrungen ist, sondern sogar bis über die Stadtgrenze zu den hochnäsigen Berliner:innen. Unter ihrem Chef Antonello Manacorda wagt die KAP sich verwegen an die Fünfte, das revolutionärste Werk überhaupt und zugleich das mit der akutesten Durchzugsgefahr: Tadada-daaaa rein ins Ohr, Tadada-daaaa raus aus dem Ohr. Manacorda wird das Werk listenreich umzingeln: Zum einen mit den natur- und märchenhaften Klängen von Felix Mendelssohns Märchen von der schönen Melusine (das Werk hätte Beethoven, der auf seinen fanatischen Spaziergängen Gott in jedem Gebüsch spürte, sicher zugesagt). Zum anderen mit einem Vorgänger wie Giovanni Battista Viotti, der als Violinvirtuose quasi der Vater von Paganini war.
Antonello Manacorda | Christian Tetzlaff
So bemerkenswert nüchtern der Name Das Neue Orchester, so radikal ist sein Treiben. Für ähnliche musikalische Dinge, wie Das Neue Orchester sie bereits seit 1988 praktiziert, wird ein Dirigent wie Teodor Currentzis weltweit vergöttert oder wahlweise geschmäht: rasante Tempi, kantige Expression, unbedingte Präsenz. Wenn Das Neue Orchester zu Silvester die vielsilvestrierte Neunte aufführt, könnte das neue Rathaus von Schnarup-Thumby gleich wieder in die Luft fliegen. Und seien wir ehrlich, besser kann ein Jahr doch gar nicht enden.
Beethoven: 9. Sinfonie
Wen nun das Mozarteumorchester Salzburg Beethovens Achter zur Seite stellt, darauf werden Sie von selbst kommen. Genau: Richard Wagner. Na gut, und Mozart, dessen Söhne und Witwe 1841 an der Gründung dieses nunmehr ältesten österreichischen Orchesters mitwirkten. Zwei schamlos subjektive Dinge muss ich hier erwähnen: Erstens, dass bei diesem Konzert zwei Musiker dabei sind, die mir in den letzten Monaten mit die aufregendsten Konzerterlebnisse beschert haben, nämlich der kaum glamouröse oder provozierende, aber umso erfüllender arbeitende Dirigent Andrew Manze sowie der junge Augustin Hadelich, der definitiv zu den aufregendsten Geigern der Gegenwart gehört. Zweitens, dass die Achte der Lieblingsbeethoven aller Menschen ist, deren Lieblingsbeatle weder Paul noch John war, sondern George Harrison. Und das sind bekanntlich die feinsinnigsten Menschen.
Mozarteumorchester Salzburg | Andrew Manze
Schließlich und endlich kann man auch einen biografischen Umweg nehmen, um Beethoven mal in ganz frischem Licht zu hören. Denn auch das ist Tatsache: Da können die Wiener sich auf die Haxen stellen und die Deutschen auf den Kopf – die Zielstadt aller späten Träume Beethovens war London. Hätte der Titan sich nicht totgesoffen, wäre er bestimmt dorthin übersiedelt, wo man ihn immer schon schätzte statt vergrätzte. Wenn nun kein geringeres Ensemble als das London Philharmonic Orchestra Beethovens Dritte spielt, ist das nur angemessen. Und ebenso angemessen, dass dieses Programm keine originellen Faxen macht, sondern der Eroica einfach Johannes Brahms’ erstes Klavierkonzert beigesellt. Auch das gehört dazu: Gipfelwerke unter sich.
London Philharmonic Orchestra | Edward Gardner
Vergangene Veranstaltung
Mein Versprechen: Wenn Sie das alles hören, wird Beethoven für Sie wieder zum staunenmachenden Geheimtipp. Einer, der Ihnen ganz von Null begegnet, jedesmal neu.